YouTube-Serie »Komm, lieber Tod« wird 1 Jahr alt. Gedanken zum Jubiläum ...

(Text: Thomas Hinz) YouTube ist heutzutage mehr als ein Portal für Katzen-Content, Schminktipps oder Musikclips. Auf der Plattform haben sich unzählige Sender etabliert, die eigene Formate für ihre Zuschauer anbieten. Der Kanal ZQNCE (gesprochen: Sequence) hat sich auf Biographie-Serien spezialisiert. 

Die Besonderheit ist das minimalistische Set-up, das den Erzähler in den Vordergrund rückt. Die Serie »Komm, lieber Tod« ist die zweite ihrer Art und widmet sich den Themen Depression und Suizid. In 61 Folgen, jede zwischen sechs und zehn Minuten lang, schildert Stefan Lange eindrucksvoll von einem Leben mit Depressionen und Todessehnsucht.

 

Vor genau einem Jahr startete die Serie »Komm, lieber Tod« auf dem YouTube-Kanal ZQNCE. Heute (Stand Oktober 2021) zählt die Serie über 2.3 Millionen Aufrufe. Die Rückmeldungen der Zuschauer, egal ob Betroffene oder Nicht-Betroffene, sind zahlreich und sehr berührend. So fing alles an ...

Es ist ein trüber Sonntagnachmittag irgendwann im November. Einige Stufen führen hinab zum »Unikeller«, eine Studentenkneipe im Osnabrücker Schlosspark. Stefan wartet vor der verschlossenen Eingangstüre, er raucht und versucht dicht an die Pforte gedrängt Schutz vor dem kalten Nieselregen zu bekommen. Sonntags ist der Unikeller üblicherweise geschlossen, doch Bastian, der Pächter des Szenelokals, macht für Paul eine Ausnahme.

Paul ist der Produzent und kreative Kopf des YouTube-Kanals ZQNCE, eine Abkürzung, die für Sequence steht. Paul hat das Szenelokal für die Dreharbeiten zur YouTube-Serie »Komm, lieber Tod« auserkoren.

 

Endlich erscheint Bastian. Ein kurzes freundliches »Hallo«, sie kennen sich schon von vorangegangenen Drehaufnahmen, und dann gelangt Stefan ins trockene Innere. Bastian kocht eine Kanne guten Filterkaffee und wendet sich dann der Buchhaltung zu. Stefan sitzt am Tresen und wartet. Wo ist Paul?

Kein Grund zur Sorge, denn Paul ist eigentlich immer verspätet. Stefan bereitet die Dreharbeiten vor. Die Aufzeichnungen werden in einem gewölbeartigen Nebenraum gemacht, mit roten Ziegelsteinen verkleidete Wände und nur durch wenige Scharten dringt Licht in den ansonsten dunklen Raum hinein. Die Luft ist geschwängert von kaltem Nikotin und es riecht nach abgestandenem Bier. Stefan wuchtet einen runden Holztisch vor eine Wand, schiebt einen Stuhl heran und platziert dann einen großen Glasaschenbecher auf das abgenutzte Inventar. Fast fertig, es fehlt nur noch die Technik.

Paul kommt durch die Türe gerauscht, schwer bepackt mit zwei Rucksäcken. Er murmelt ein knappes »Sorry« und baut dann routiniert die Technik auf. Zwei Kameras, die wie Fotoapparate aussehen, werden auf Stativen montiert, zwei Neonlampen werden verkabelt und in Stative eingehängt, die die Szenerie in ein warmes, schummriges Licht tauchen. Die 64 GB-Speicherkarten sind eingelegt und die Objektive auf den Protagonisten fokussiert. Der Dreh kann beginnen.

 

Das Storyboard für die Serie, welche Streifzüge durch ein Leben mit Todessehnsucht beleuchten, haben Paul und Stefan gemeinsam geschrieben. Beide wissen worüber sie heute sprechen wollen. Heute geht es darum, wie es sich anfühlt seinem Leben ein Ende zu setzen. Paul klatscht zweimal laut in die Hände, stellt Stefan eine Frage, die später im Video nicht zu hören ist. Stefan fängt an zu erzählen, er ist geblendet von den Neonlichtern und kann Paul nur als Schattenumriss wahrnehmen.

 

Aus fünf Drehtagen mit insgesamt 15 Stunden und unzähligen Gigabyte Material hat Paul die 61-teilige Serie »Komm, lieber Tod« produziert. Die Routine für das Aufzeichnen, Schneiden und Hochladen hat sich Paul während drei Jahren erworben. Die erste Biographie-Serie des Kanals ZQNCE mit dem Titel »Shore, Stein, Papier« handelte von dem ehemals Drogensüchtigen »$ick«, der in über 380 Folgen aus seinem Leben voll von Drogenexzessen, Knast und Rückfällen berichtet. Diese Serie hat sich zu einem Hit auf YouTube mit vielen Millionen Aufrufen gemausert. 2015 wurden die Macher dafür mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet, nicht nur wegen der Authentizität, sondern auch für die Darstellung eines Lebens ohne Tabu und ohne moralischen Zeigefinger.

 

Es ist kurz nach 18:00 Uhr. Die Akkus gehen zur Neige und die Speicherkarten sind voll. Stefan ist müde, er hat sich wieder einmal Ereignisse von der Seele geredet, Ereignisse die schon längst als verarbeitet und abgeharkt gelten sollten, bis ihn die Vergangenheit nicht nur eingeholt, sondern mit voller Wucht kalt erwischt hat.

 

Damals: Stefan ist knapp 30 Jahre alt, wir schreiben das Jahr 1994. Frisch diplomiert, ein Leben mit Perspektiven im Blick, macht sich Stefan auf den Weg ins andalusische Sevilla, um seine Spanischkenntnisse zu vertiefen. Aber er erlebt noch ganz andere Tiefen.

Es ist Susanne, eine Schweizerin, an der er nicht nur sein Herz verliert, sondern die leidenschaftliche und symbiotische Beziehung ruft Erinnerungen an eine traumatisierte Kindheit wach. Die Sehnsucht nach Heilung war tief in ihm vergraben, vergessene Bedürfnisse wurden wachgerufen und befriedigt. Doch auch Susanne ist traumatisiert. Eine kurze Romanze in jungen Jahren endete damit, dass sich der Ex-Freund vor den Zug geschmissen hatte. So ein Ereignis hinterlässt tiefe Narben.

Doch die Beziehung steht unter ungünstigen Voraussetzungen. Trotz aller Beteuerungen auf eine gemeinsame Zukunft, bricht Susanne die Beziehung überraschend ab. Stefan hat dem Trennungsschmerz nichts entgegenzusetzen, er gleitet ab in eine tiefschwarze Welt, in der die Sehnsucht nach dem Tod regiert. Seinen Suizidversuch hat er mit viel Glück überlebt. Daran schließt sich ein monatelanges Dahinsiechen in tiefster Depression, garniert mit reichlich Tabletten und Alkohol, an.

Erst einer ehemaligen Studienkollegin, der Stefan zufällig in der Stadt begegnet, gelingt es ihn aufzufangen. Anja motiviert Stefan professionelle Hilfe zu suchen und anzunehmen. Der Therapeut rät ihm seine Geschichte aufzuschreiben. Damit soll die negative Energie kanalisiert und abgeleitet werden. In den folgenden sechs Wochen schreibt sich Stefan förmlich ins Leben zurück, fast zwanghaft und ohne Pause. Erst danach fühlt er sich überhaupt therapiefähig. Aus diesen Aufzeichnungen ist später sein autobiographischer Roman »Suicide« entstanden.

 

Über Jahre plagen Stefan gegenüber Susanne Schuldgefühle. Was er angerichtet hat, ist ihm sehr wohl bewusst geworden und er hofft, irgendwann einmal mit ihr ins Reine zu kommen – ein großes Bedürfnis.

 

Mitte April 2015. Stefan sitzt abends an seinem Laptop, als ihm ein vertrautes Gong-Signal über den Eingang einer neuen E-Mail informiert. Doch diese E-Mail, die ihm über seine Webseite geschickt wurde, sieht anders aus. Kein Wort, sondern nur ein Link zu einem PDF-Dokument einer Schweizer Gemeinde irgendwo am Bodensee. Unter der Rubrik »Unsere Toten« steht Susannes Name und ihr Alter ist erwähnt.

Stefan und Susanne haben sich nie wieder gesehen, aber sie verbindet eine tragische Geschichte und obwohl diese Beziehung längst zu Ende war, scheint es so als würde sie noch einmal beendet werden.

Der Schock in Stefan sitzt tief. Schneller als geglaubt holen ihn alte Gefühle und Gedanken ein. Er taumelt, und um der aufkommenden Verzweiflung Herr zu werden, führt Stefan stundenlange Selbstgespräche. Die Gefühle von damals kommen zurück. Sie sind authentisch, vielleicht werden sie nie wieder so real und greifbar sein. Stefan will das alles aufzeichnen, bewahren, konservieren – irgendwie. Vielleicht das Ganze mit einer Videocam dokumentieren?

 

Eher zufällig sieht Stefan im Vorabendprogramm einen Bericht über den YouTube-Kanal ZQNCE und erfährt so etwas über die Videoserie »Shore, Stein, Papier«. Er ist wie elektrisiert, hofft, dass ihm die Betreiber des Kanals Tipps und Anregungen für eine eigene Videoserie geben können. Stefan schreibt an die Redaktion. Die Antwort kommt schnell: ZQNCE ist an seiner Geschichte interessiert und laden ihn zu Probeaufnahmen ein. Nachdem das O.K. von der Geschäftsleitung kommt, ist die Idee der Biographie-Serie »Komm, lieber Tod« geboren.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Patrick (Sonntag, 19 März 2017 11:01)

    Vielen Dank für diese Serie und die geteilten Emotionen. Dadurch habe ich mich selbst wiedererkannt und schöpfe neuen Mut. Alleine das Gefühl, nicht alleine zu sein, gibt mir Kraft und wenn sie es geschafft haben, kann ich das auch. Alle Gute für Sie!